von Jan Wetzel |
Bis zu einem gewissen Zeitpunkt meiner
Gitarrenlehrertätigkeit habe ich zu jenen gehört, die vom
Akkordeschrammeln in der I.Lage nichts hielten. Stattdessen
wollte ich den Schülern von Anfang an die Kunst des klassischen
Gitarrenspiels oder des virtuosen Solospiels auf der E-Gitarre
beibringen.
Mit zunehmender Unterrichtspraxis jedoch wurde ich das Gefühl
nicht mehr los, gegen eine gewisse Schwerkraft zu arbeiten. Ich
gestand mir ein, dass das von mir vertretene gitarristische
Bildungsideal und die Realität irgendwie nicht recht zueinander
paßten. Außerdem plagten mich Gewissensbisse, ob ich
möglicherweise an einigen meiner damaligen Schüler das
schlimmste Verbrechen begangen habe, das ein Musiklehrer im
Dienst begehen kann: die Lust aufs Musizieren
ein für allemal zu verderben.
Bis dahin reichten mir die üblichen Ausreden der
Diplom-Musik-Pädagogen-Zunft. Etwa, dass die faulen Schüler
nicht genug üben, dass die Eltern gefälligst mit dem Rohrstock
am Notenpult stehen sollen oder dass die heutigen Menschen keinen
Sinn mehr für das Schöne und die Kunst haben. An wem liegt es,
wenn die Fische nicht beißen? Am Angler, an den Fischen oder am
Köder?
Ich tippte auf letzteres. Ich begann mir mein Unterrichtsmaterial
selber zu erstellen. Ein Ergebnis dieser mehrjährigen Arbeit
liegt nun u.a. als Gitarren-Lern-Software namens Gitarrero Beginner vor. (Ernesto's Testbericht vom Programm)
Meine grundsätzliche Einsicht war: Um
Musik zu machen, muss man kein Künstler sein. Die Lehrmethoden
im Instrumentalunterrichts sollten nicht ( wie immer noch
üblich) an einer künstlerischen Laufbahn sondern an der
praktischen musikalischen Lebenswelt ausgerichtet werden.
Die gestandenen Gitarrenlehrer werden vielleicht dagegen halten,
dass der Instrumentalunterricht von jeher etwas Elitäres war,
weil nun mal Wille, Talent und Übung dazugehören. Das mag
historisch gesehen richtig sein, aber die Zeiten haben sich
geändert. Musikhören und Musikmachen sind mit der Entwicklung
der Unterhaltungsmedien zwei getrennte Dinge geworden. Das war
noch vor 100 Jahren ganz anders. Wo damals Musik erklang,
mußte auch jemand da sein, der sie erzeugte.
Ein für den Musikpädagogen ganz bedeutsamer Umstand ist, dass
heutzutage weit weniger gesungen wird als früher. Kirche,
Schule, Feste, Kneipen, Militär - Singen war einst so
alltäglich wie das Sprechen. Früher haben die Leute bei der
Arbeit gesungen, heute stellt man auf der Baustelle das Radio an.
Im Grunde kann jeder singen, zumindest mitsingen. Genauso wie
meiner Meinung nach jeder normale Mensch auf der Gitarre ein paar
Akkorde zu einem Song spielen könnte. Dafür braucht man nicht
lange Noten und korrekte Fingerhaltung zu lernen. Und eigentlich
braucht man dafür auch keinen Gitarrenunterricht
vorausgesetzt, dass es eine einigermaßen gut entwickelte
Musizierkultur in der Gesellschaft gibt. Da sieht es schlecht
aus.
In musikalischen Kulturen saugen die Kinder musikalische
Grundfertigkeiten sozusagen mit der Muttermilch auf. Das ist bei
uns anders. Ein Gitarrenschüler bringt heute zwar jede Menge
Hörerfahrungen mit, aber es mangelt an elementarster praktischer
Vorbildung. Konkret sehe ich Schwächen vor allem im
Rhythmusgefühl. Die Musik, die wir meistens hören, ist
rhythmisch raffiniert.
An der Ampelkreuzung stehen Autos aus
denen hundertstelgenaue Bassdrumbeats dröhnen. Der HipHop
zerhackt unsere Sprache in exakte rhythmische Werte, wir alle
hören das täglich. Trotzdem mangelt es vielen Schülern am
Anfang ihrer Ausbildung am simpelsten Taktgefühl. Wenn im Radio
23 Stunden am Tag Lieder mit 4/4- Drumbeat erklingen, könnte man
ja denken, dass die Schüler auch ohne Mitzählen die Eins
finden. Doch dem ist oft nicht so.
Nächster Problempunkt wäre das harmonische Empfinden. Wann
wechselt bei einer einfachen Melodie die Harmonie? Ein
erfolgreicher Popproduzent kann es sich ja heute kaum noch
leisten, mehr als 4 Akkorde in einem Song zu verwenden. Also
würde man auch hier tippen, dass die von Kleinauf beschallten
Menschen wenigstens 2 dieser 4 Akkorde innerlich empfinden
könnten. Aber weit gefehlt. Das muss in den meisten Fällen
gelernt und geübt werden.
Es ist mir völlig egal, ob irgendwo eine Statistik darüber
existiert, wie sich die in den Instrumentalunterricht
mitgebrachten Fähigkeiten vor 10, 50 oder 200 Jahren zu heute
verhalten. Fakt ist, dass es die Probleme sind, mit denen ich
mich rumschlage oder besser gesagt, rumgeschlagen habe. Wir
kommen jetzt nämlich auf den Ausgangspunkt zurück: Gerade das
von den Koryphäen verachtete Griffeklampfen ist das beste
Rezept, um dem heutigen Durchschnittsschüler den Einstieg ins
Musikmachen effektiv zu ermöglichen. Wir schlagen mit einer
Klappe nicht nur mehrere sondern alle
Fliegen, die es im erfolgreichen Anfangsunterricht zu schlagen
gibt.
Wie das? Ich erkläre.
Rhythmus ist nicht erst in der populären
Musik das A und O. Wir haben eine begrenzte Anzahl von Tönen,
aber eine unbegrenzte Anzahl von Rhythmen. Wenn ich einem
Schüler eine Skala aufschreibe, spielt er deswegen noch lange
kein gutes Solo, selbst wenn er die zur Harmonie passenden Töne
genau trifft. Das Solo wird erst dann interessant, wenn der
Schüler abwechslungsreiche Rhythmen findet. Die guten
Improvisateure sind in erster Linie gute Rhythmiker, die
blitzschnell interessante und schlüssige Rhythmen generieren
können.
Punkt 2: Harmonien. Landläufig gilt die Melodie als das zentrale
Glied der Musik. Dem ist aber nicht so, denn die Tonskalen leiten
sich aus den Gesetzen des Zusammenklangs ab. Die Melodie ergibt
sich aus den jeweils am deutlichsten klingenden Tönen von
Harmonien. Ein Beispiel: Die Schüler kommen reihenweise
durcheinander, wenn sie eine Melodie geübt haben, aber deren
harmonischen Zusammenhang nicht kannten. Das ist deswegen so,
weil sie einer Melodie innerlich automatisch einen harmonischen
Kontext zuordnen, der dann in den seltensten Fällen mit der
konfrontierten Harmonik übereinstimmt. Durch das Spielen von
Harmonien wird der musikalische Sinn effektiver geschärft als
durch das Melodiespiel.
Demzufolge ist das Aneinanderreihen von Akkordgriffen mehr als
nur jene populäre Trivialität von Autodidakten. Es ist eine
geniale Therapie für alle musikalischen Schwächen und
Minderbegabungen. Und gleichzeitig ist das "Klampfen"
eine Versicherung, dass es im weiteren Verlauf der Ausbildung
nicht zu jenem totalen Zusammenbruch kommt, nach dem dann gar
nichts mehr übrigbleibt ( nach dem Motto: "Ich hatte mal
als Kind 5 Jahre Gitarrenunterricht, kann aber nicht einmal ein
einfaches Volkslied begleiten.").
Was hält nun die ehrwürdigen Gitarrenpädagogen von dieser Methode ab? |
Das erste große Problem sind die Noten, die
heilige Kuh aller gestandenen Musiker. Ein durchgeschlagener
Akkord würde die Notation von durchschnittlich 5 Noten
übereinander erfordern. Das geht am Anfang didaktisch nicht.
Gemäß dem Leitspruch - Zuerst die Noten, dann die Musik
quält sich der Schüler durch Hilfslinien und Vorzeichen, bis er
nach ein paar Jahren endlich einen Akkord lesen darf.
Fraglos ist eine Notation der Musik im Unterricht unerläßlich.
Doch warum muß es unbedingt das herkömmliche Notensystem sein?
Die rhythmische Notation mit Akkordsymbolen reicht ja erst einmal
zu. Das Problem bei der Umsetzung von Noten in Musik liegt eh
meist an der zeitlichen Komponente, sprich Rhythmus. Es ist doch
für die Entwicklung eines brauchbaren Notenspiels sehr günstig,
wenn sich der Schüler am Anfang vornehmlich auf den Rhythmus
konzentrieren kann.
Desweiteren wird in der "konservativen" Denkweise das
gleichzeitige Umgreifen von mehreren Fingern für den Anfang
verworfen, weil es theoretisch viel schwieriger ist als das
Melodiespiel, bei dem ja im Grunde nur jeweils ein Finger bewegt
werden muss. Fraglos ist die motorische Leistung bei einem
Akkordwechsel größer als beim einstimmigen Spiel, zudem
benötigen wir für einen Wechsel Zeit, die vom jeweils letzten
Notenwert stillschweigend abgezogen wird.
Deswegen ist eine bestimmte Reihenfolge beim Erlernen der Akkorde
und Wechsel nötig. Die ist bei Gitarrero Beginner zu sehen. Und es funktioniert.
Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass beim Melodiespiel
viel öfter umgegriffen werden muss. Auf den Gesamtablauf eines
Stückes gesehen, ist das Melodiespiel also nervlich
anstrengender.
Nun, dafür können wir die
Unterhaltungselektronik gut gebrauchen. Wozu gibt es CD-Player
und Multimedia-PCs. Nutzen wir doch diese Möglichkeiten und
simulieren dem Schüler schon beim Üben eine musikalische
Situation. Siehe Gitarrero Beginner. Das Mitsingen zur Gitarre ist
zumindest bei komplexeren Rhythmen schwierig, das muß man
zugeben. Aber das kann im Unterricht der Gitarrenlehrer
übernehmen. Oder verstecken sich manche Gitarrenlehrer zu gern
hinter ihrem Instrument?
Ist es vielleicht manchem ambitionierten Profimusiker unter
seiner Würde, mit den Anfängern Lagerfeuersongs zu trällern?
Oder denken manche Lehrer nur in den Kategorien, die für ihr
künstlerisches und pädagogisches Prestige nützlich sind? Ist
aber ein Schüler mit einem Preis bei "Jugend
musiziert" für einen Lehrer ein besseres Aushängeschild
als 10 Schüler, die Straßenmusik machen?
Wenn man in einem Experiment
Gitarrenunkundige auffordern würde, das Gitarrespielen
pantomimisch darzustellen, würden wohl alle als Anschlagsform
der rechten Hand eine Pendelbewegung verwenden. Ist es daher
nicht ein wenig paradox, wenn die Anfänger im Anfangsunterricht
mit einer völlig anderen Spielweise konfrontiert werden?
Deswegen schlägt man bei mir und in meiner Software Gitarrero Beginner fürs erste mit Plektrum an. Die
klassische Fingerhaltung kann der Schüler dann lernen, wenn er
sich dafür interesssiert.
Nebenbei bemerkt: Es kommen auch Leute zu mir, die ganz konkret
die klassische Gitarrentechnik erlernen wollen. Oft haben sie
sich mit dem Akkordspiel I. Lage schon beschäftigt und wollen
mehr. Ich würde das Verhältnis von "Klampfern" und
klassischen Gitarrenschülern auf 50:50 schätzen. Allerdings
wechseln diejenigen, die sich die Konzertgitarre leichter
vorgestellt haben, später auch gerne wieder zur
"Klampfe" zurück. Das gleiche passiert bei
E-Gitarrenschülern.
Mir fällt kein Zacken mehr aus der
Gitarristenkrone, wenn ich mit den Gitarrenschülern Reinhard Mey
und Nena singe. Das klingt auf jeden Fall besser als
Pflichtklassik. Die Schüler lernen mehr, auch wenn es nicht in
Noten, Tonleitern und Schwierigkeitsstufen meßbar ist. Für die
Wirkung von Musik ist es enorm wichtig, dass der Macher nicht
überanstrengt wird. Musik muss locker sein. Das Erlebnis dieser
Leichtigkeit ist beim konservativen Ansatz unwahrscheinlicher.
Ich bewerte Musik vor allem danach, ob sich eine gewisse Energie
vom Spieler auf den Zuhörer überträgt. Wenn die ganze Energie
in Konzentration und Versagensangst über ein künstlerisch
anspruchsvolles Stück gesteckt wird, bleibt am Ende nichts
übrig, was den Zuhörer erreichen könnte. Also was solls?
Haben wir damit der Kunst gedient? Nein, im Gegenteil.
Das Akkordeschrammeln ist aus methodischer und didaktischer Sicht gesehen weitaus besser als sein Ruf in den Lehrerkreisen.
Gitarrenunterricht muss auf die
aktuelle Realität des Instrumentes Rücksicht nehmen, um nicht
ins Lehre zu laufen. Die Realität besagt, dass die Gitarre als
Rhythmus- und Harmonieinstrument verwendet wird, demzufolge muss
der Gitarrenunterricht darauf besonders eingehen. Am besten
gleich am Anfang, denn die Erwartungen der Schüler an Spielweise
und Klang werden durch die alltägliche Hörerfahrung
vorgeprägt. Eine Enttäuschung dieser Erfahrung kann
schwerwiegende Probleme mit sich bringen, was letztlich zum
pädagogischen Mißerfolg führt.
Ich würde mich freuen, hiermit eine kleine Diskussion angestachelt zu haben und warte auf Kommentare. Als Diskussionsgrundlage könnte auch die von mir entworfene Software Gitarrero Beginner dienen, die unter http://www.gitarrero-beginner.de als Demoversion heruntergeladen oder als Vollversion gekauft werden kann. Jan Wetzel, Dipl.Mus.Päd. für
Gitarre/E-Gitarre,
Dresden. |
© liegt beim Autor
1998-2005 Ernst Jochmus www.gitarrenlinks.de